Stakeholder-Dialog

Zukunftsfähig durch Zuhören und Einbeziehen

Warum Stakeholder Engagement in den Fokus jeder Nachhaltigkeitsstrategie gehört
15. August 2024 Von Lena Anders
Stakeholder-Dialog

Die neuen EU-Standards zur Nachhaltigkeitsberichterstattung (European Sustainability Reporting Standards, ESRS) stellen die berichtspflichtigen Organisationen vor einige Herausforderungen. Hierzu gehört unter anderem die Vorgabe, Stakeholder*innen systematisch einzubinden, und zwar nicht nur bei der Bestimmung der wesentlichen Berichtsinhalte, sondern auch bei der Ausübung ihrer Sorgfaltspflichten. Ein systematisches Stakeholder Engagement (SE) hilft ihnen hierbei und leistet noch einiges mehr.

Stakeholder*innen sind gefragt

Die ESRS verlangen, die internen und externen Stakeholder*innen – in der deutschen Übersetzung der ESRS wird der Begriff „Interessenträger“ verwendet – intensiver als bisher einzubinden. Dies soll sicherstellen, dass Personenkreise, die vom Unternehmenshandeln direkt oder indirekt betroffen sind, im Wesentlichkeitsprozess mehr Beachtung finden. Bei der Auswahl der zu berichtenden Auswirkungen, Risiken und Chancen (Impacts, Risks & Opportunities – IROs) sollen deren Interessen systematisch berücksichtigt werden, um zu gewährleisten, dass die Berichte zuverlässig über die Nachhaltigkeitsleistung des Unternehmens informieren. Dabei geht es vor allem darum, dass die Adressat*innen verstehen, was das Management der IROs für ihre Interessen (Arbeitsplätze, Kapitalanlagen, Partnerschaften, Umweltschutz, Wohlstand etc.) bedeutet. Auch sollen speziell Kapitalgeber*innen und Investor*innen imstande sein zu erkennen, wie sie das Unternehmen bei seiner Transformation ggf. unterstützen können. Transformation – so die Einsicht – erfordert Transparenz.

Für alle berichtenden Unternehmen ist es deshalb ratsam, ein systematisches strategisches SE einzurichten. Zwar ist die Einbindung der Interessenträger*innen aufwändig. Jedoch lohnt sie sich, denn eine multiperspektivische Bewertung der IROs ist neben der Berichterstattung wertvoll für viele steuerungsrelevante Prozesse wie das Risikomanagement oder die Strategieentwicklung.

Interessenträger*innen bei strategischen Entscheidungen einzubeziehen, ist an sich nichts Neues. Konzernbereiche wie Human Resources (HR), Sales & Marketing, Investor Relations (IR) oder Sourcing pflegen seit jeher einen intensiven Austausch mit ausgewählten Stakeholder*innen. So wollen sie deren unterschiedliche, teils widersprüchliche Standpunkte verstehen und darauf reagieren. Für diesen Austausch etwa mit Mitarbeitenden, Arbeitnehmendenvertretungen, Kund*innen, Shareholder*innen, Dienstleister*innen oder Lieferanten gibt es etablierte Kanäle – von der Aktionärsversammlung bis zum Lieferantentag. Dennoch handelt es sich bei den herkömmlichen Aktivitäten nicht um ein umfassendes, auf Nachhaltigkeit zielendes SE. Sie reichen nicht einmal hin, um die vorgeschriebene Wesentlichkeitsbewertung vorzunehmen, weil viele Dialoge legitimerweise andere Zwecke verfolgen als die Bewertung der Auswirkungen, Risiken und Chancen des Unternehmens.

Ein weiterer Grund: Klassische Stakeholder-Kommunikation richtet sich nicht an alle von den Geschäftsaktivitäten betroffenen Interessenträger*innen; sie stellt Themen, die für die Ertrags-, Vermögens- und Finanzlage nicht unmittelbar relevant sind, eher in den Hintergrund. Hinzu kommt, dass die Kanäle meist separiert und die Teilnahmemöglichkeiten ungleich verteilt sind.

Strategische Rahmensetzung nötig

Vor allem aber fehlt ein strategisches Fundament, das Interessenträger*innen Plattformen und andere Formate bietet, auf denen sie Anregungen und konstruktive Kritik einbringen können. Dieses Fundament schafft ein strategisches SE, das die Anliegen aller Seiten würdigt und die Unternehmen befähigt, Trends oder Risken zu erkennen. Damit dies gelingt, sollte eine Reihe von Bedingungen erfüllt sein:

  • SE erfordert die Rückenstärkung seitens der Unternehmensleitung. Es gilt, die Beschäftigten zu neuen Formen des Austauschs zu motivieren und zum eigenverantwortlichen Handeln zu ermutigen.
  • Zur Steuerung des SE braucht es aussagefähige Leistungsindikatoren. Sie müssen die verschiedenen Wertschöpfungsfaktoren für das Unternehmen und seine Interessenträger*innen transparent machen und eine Fortschrittsmessung ermöglichen.
  • Um die herkömmlichen, bereichsspezifischen Stakeholder-Kanäle durchlässiger zu machen, müssen die SE-Aktivitäten der Unternehmensbereiche besser vernetzt und zentral koordiniert werden.
  • Elementare Bestandteile eines strategischen Gesamtkonzepts sind zudem die Ergebnissicherung und Veranschaulichung von Auswirkungen sowie eine crossmediale Kommunikation mit Stakeholder*innen und/oder der Öffentlichkeit.

Vor dem Hintergrund globaler Trends sind darüber hinaus weitere Maßnahmen anzuraten: Angesichts weltumspannender Wertschöpfungsketten empfiehlt sich in vielen Fällen eine Internationalisierung der Formate. Gleichzeitig beobachten wir bei den jüngsten SE-Initiativen eine Tendenz zu Diversifizierung und Spezialisierung. Der Vorteil: Viele kleine Formate festigen die Vertrauensbasis und ermöglichen damit intensiveres und kontinuierlicheres Arbeiten als wenige große Konferenzen. Wichtig ist aber, dass die Aktivitäten der Gruppen gut koordiniert werden. Ferner ist es sinnvoll, feste Teilnehmenden-Kreise zu etablieren, deren Mitglieder das Unternehmen kennen. Sie können zeitnah eine fundierte Beratung leisten. Auch kann es vorteilhaft sein, auf aktuelle Technik zu setzen: Wer eine SE-Software gründlich einrichtet und regelmäßig pflegt, erlangt idealerweise bessere Kontinuität und schont Ressourcen.

Zielvorgaben und Anreize für alle Seiten

Als Transformationsberatung kennen wir viele Unternehmen, die das Potenzial eines offenen Austauschs durchaus sehen und aktiv nutzen – beispielsweise indem sie Stakeholder-Konferenzen ausrichten, ihre High- und Lowlights beleuchten und Kooperationsangebote machen. Manche öffnen ihre Lieferantendialoge für das Thema Menschenrechte in den Vorketten, andere gestalten ihre Mitarbeitendenkommunikation mithilfe einer Diversity-Policy oder richten sich in ihren Roadshows gezielt an Investor*innen mit nachhaltiger Anlagestrategie.

Selten wird allerdings das Potenzial von SE, die Transformation durch eine stetige, für alle Seiten fruchtbare Zusammenarbeit zu begleiten, voll ausgeschöpft. Um die hierfür nötige dauerhafte Mitwirkungsbereitschaft zu sichern, bedarf es einer klaren Perspektive für das Unternehmen und für seine Stakeholder*innen. Der Aufwand und der erwartbare Wertschöpfungsbeitrag des SE sollten im Rahmen einer umsichtigen, teilnehmenden Projektsteuerung nüchtern abgewogen und offen kommuniziert werden. Folgende Projekte konnten wir unter dieser Maßgabe erfolgreich entwickeln:

  • Gemeinsam mit einem Kunden haben wir in den Jahren von 2021 bis 2024 ein Stakeholder Advisory Panel aufgebaut. Der Vorstand des Unternehmens ließ sich von den Expert*innen des Panels, die aufgrund ihrer jeweiligen Hintergründe verschiedene thematische Schwerpunkte mit in das Gremium brachten, direkt beraten. Beide Seiten haben sehr offen und ehrlich miteinander gesprochen und sich als lernfähig erwiesen. Viele der erarbeiteten Empfehlungen setzte das Unternehmen später operativ um.
  • Bei einem anderen Kunden haben wir Fachleute dazu eingeladen, in einem Workshop zu einem themenspezifischen Leitlinienentwurf Stellung zu beziehen. Dank einer kreativen Diskussionsmethode, unter anderem mit variabler Platzierung in konzentrischen Stuhlkreisen, konnten viele Aspekte aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet und bei der Überarbeitung des Dokuments berücksichtigt werden. Anschließend äußerten die Stakeholder*innen den Wunsch nach einem weiteren, noch tiefergehenden Austausch.

Bei der Projektarbeit bestätigte sich, wie wichtig es ist, dass die Mitwirkenden sich gehört fühlen, Resonanz erfahren und die Wirksamkeit ihrer Einlassungen erleben. Deshalb müssen Unternehmen deutlich kommunizieren, wie der Input genutzt wird und wie er Entscheidungen beeinflusst. Stakeholder*innen freuen sich außerdem über Vorteile wie verbesserte Lagebeurteilungen oder einen exklusiven Zugang zu Informationen.

Fazit

Stakeholder Engagement bearbeitet Themen mit Transformationspotential, stärkt die Zukunftsfähigkeit und macht das Nachhaltigkeitsengagement eines Unternehmens in vertrauensvollen Dialogen greifbar und authentisch. Wir empfehlen, es weiter voranzutreiben, auch wenn das ESRS-Reporting zurzeit viele Ressourcen bindet.

 

 

Text: Lena Anders und Björg Volquardsen