Prof. Dr. Rainer Grießhammer, Mitglied der Geschäftsführung des Öko-Instituts, ist ein Pionier in der Forschung zu den Themen nachhaltiger Konsum und nachhaltige Produkte. Auf der Abschlusskonferenz des Projektes „Transformationsstrategien und Models of Change“ am 12.06.2015 in Berlin präsentierte er Forschungsergebnisse, die Antwort darauf geben, wie gesellschaftliche Transformationen und Innovationen gelingen können. Gemeinsam mit Stakeholder Reporting setzt das Öko-Institut zurzeit ein wegweisendes Projekt zur Messung der Nachhaltigkeitsperformance von Produkten und Diensten im globalen Informations- und Kommunikationstechnologie- (ICT-)Sektor um.
Herr Prof. Dr. Grießhammer, was sind Ihre persönlichen Motive, sich jetzt verstärkt mit gesellschaftlichen Transformationsprozessen zu beschäftigen? Ist Ihnen das Tempo der Einführung nachhaltiger Produkte in der Wirtschaft zu langsam?
In den vergangenen Jahrzehnten hatte es im Umweltbereich viele Lösungen für einzelne Probleme gegeben, aber keinen systematischen Umbau. Die globale Umweltsituation und soziale Krisen spitzen sich zu und zu deren Lösung bedarf es grundlegender Änderungen und Transformationen. Ein positives Beispiel ist die Energiewende in Deutschland, wohingegen die seit 1992 ausgerufene Transformation zu einer nachhaltigen Entwicklung und nachhaltigem Konsum wenig vorangekommen ist. Da ist man nicht nur zu langsam, sondern auch noch auf dem falschen Weg.
Umso wichtiger ist es sicherlich, sich diesem Thema grundsätzlich zu nähern. Welches sind die Kernergebnisse Ihres Forschungsprojekts „Transformationsstrategien und Models of Change“?
Politik und Zivilgesellschaft müssen zunächst einmal entscheiden, welche Transformationen sie eigentlich wollen (z. B. die Energiewende), oder wenigstens wie sie Fortschritte in Richtung Nachhaltigkeit fördern wollen (z. B. die schnelle Entwicklung der IT-Technologien kurz: Industrie 4.0). Dafür bedarf es klarer Visionen und Ziele und strategischer Vorgaben, wobei man selbstverständlich Entwicklungen über die nächsten Jahrzehnte nicht im Detail planen kann. Interessanterweise kann man zeigen, dass Transformationen und Systeminnovationen dann erfolgreich sind, wenn sie auf mehreren Ebenen gleichzeitig und verknüpft ablaufen: bei Werten und Leitbildern, Verhalten und Lebensstilen, sozialen und zeitlichen Strukturen, auf dem Markt, bei der Produkt- und Technologieentwicklung, den materiellen Infrastrukturen und natürlich den politischen Instrumenten und Institutionen. Dafür braucht man ein gezieltes Innovationsmanagement, wobei es nicht nur um technologische Innovationen, sondern auch um soziale Innovationen und institutionelle bzw. politische Innovationen geht. An der Prozessgestaltung sind letztlich Politik, Zivilgesellschaft, aber auch Unternehmen beteiligt. Durch die Beschleunigung und das Vorziehung von Transformationen und Innovationen stellen sich besondere Probleme für Management und Governance, z. B. durch die notwendigen Such- und Lernprozesse oder das Konfliktmanagement zwischen Verlierern und Gewinnern einer Transformation. Schlussendlich muss auch die Finanzierung des Umbaus von Infrastrukturen geklärt werden, wie das Beispiel Energiewende zeigt. Das bereits Ende der 1990er Jahre konzipierte Gesetz für den Ausbau erneuerbarer Energien ist – trotz diverser Begleitprobleme – ein gutes Beispiel, wie Transformationen vorangebracht werden können. Die Energiewirtschaft hatte prognostiziert, dass die erneuerbaren Energien nie mehr als vier Prozent zur Stromgewinnung beitragen könnten, heute sind wir bei 32 Prozent. Und die Kosten für Solarstrom sind durch das Erneuerbare-Energien-Gesetz um mehr als 90 Prozent gesunken.
Müssen sich Unternehmen demnach in Zukunft auf mehr Regularien und Rahmenvorgaben seitens der Politik einstellen?
Tatsächlich sollte es mehr Rahmenvorgaben und Zielsetzungen durch die Politik und Gesellschaft geben, aber natürlich keine Detailplanung und auch nicht unbedingt mehr Regularien. Vor allem sollten Systeminnovationen in Richtung Nachhaltigkeit gefördert werden. Ich gehe z. B. davon aus, dass es in wenigen Jahren allein durch ein Tempolimit 30/120 (30 km/h in den Städten und 120 km/h auf den Autobahnen) massive Änderungen in der Mobilität gibt und auch die Entwicklung zur Elektromobilität davon wesentlich profitiert.
Welche Rolle spielen bei der Transformation zu einer nachhaltigen Entwicklung Such-, Lern- und Experimentierprozesse, die ein wichtiger Bestandteil der freien Marktwirtschaft sind?
Solche Prozesse sind ja typischerweise Alltag bei der unternehmerischen Produktentwicklung und -vermarktung. Die eigentliche Herausforderung liegt bei der Politik, die bei Gesetzen und Fördermaßnahmen mit solchen Unsicherheiten umgehen muss. Heute weiß man z. B. nicht, wie die großen Stromspeicher aussehen werden, die man bei der weiteren Zunahme der erneuerbaren Energien in vielleicht 10 oder 20 Jahren brauchen wird. Gleichzeitig muss man heute über Fördermittel und Netzausbau entscheiden.
Wie kann das Verhältnis zwischen freien Marktkräften und staatlichen Eingriffen konkret aussehen?
Unternehmen sind natürlich perfekt bei der Entwicklung und Einführung von Produkten und verstehen meist besser als viele andere, wie die Bürger und Kunden ticken. Aber wenn wie bislang die Politik keine wirkliche Rahmensetzung für nachhaltige Entwicklung macht, werden Produkte und Dienstleistungen eben nicht oder nur ansatzweise in diese Richtung entwickelt und Umwelt- und soziale Kosten externalisiert. Ideal ist es, wenn gesellschaftlich sinnvolle Entwicklungsziele für Produkte gesetzt werden, wie etwa bei der amerikanischen „Golden Carrot Initiative“*, und die unternehmerische Kreativität und Flexibilität dafür eingesetzt werden.
Produkte und Technologien werden in der Regel aus der Forschung, von Pionieren und Unternehmen kreativ entwickelt und in der weiteren Entwicklung privat oder staatlich gefördert, bisweilen auch gebremst. Die Analyse wünschenswerter Technologien, Produkte und Dienstleistungen bei intentionalen Transformationen ist bislang wenig entwickelt. Welchen Beitrag zur intentionalen Transformation können Nachhaltigkeitsstandards als Managmenttools spielen?
Nachhaltigkeitsbewertungen sind zuerst einmal ein idealer Maßstab für die unternehmensinterne Produktentwicklung und Vergleiche innerhalb der Branche. Sie geben Hinweise, was zukünftige Märkte unter Nachhaltigkeitsaspekten wünschen, geben damit Innovationsziele, helfen bei der integrierten Bewertung von zum Teil gegensätzlichen Anforderungen und sichern Vergleichbarkeit, Planbarkeit und Wettbewerb in der jeweiligen Branche. Gleichzeitig können sie den Kunden und der Gesellschaft Informationen über gute Produkte und das Nachhaltigkeitsmanagement der Unternehmen geben. Genau das ist ja auch das Ziel der laufenden Studie in Kooperation mit vielen Telekommunikationsunternehmen und Hardware-Herstellern im globalen ICT-Sektor. Das wird auch Vorbild für andere Branchen sein.
Vielen Dank, Herr Prof. Dr. Grießhammer – wir bleiben im Gespräch!
Vita: Prof. Dr. Rainer Grießhammer, geb. 1953, ist Mitglied der Geschäftsführung des Öko-Instituts. Aktuell leitet er die wissenschaftliche Koordination des großen Programms des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) „Umwelt und gesellschaftsverträgliche Transformation des Energiesystems“ mit insgesamt 33 Verbundprojekten.
Rainer Grießhammer studierte Chemie in Freiburg und Tübingen. Sein Forschungsschwerpunkt liegt auf nachhaltigem Konsum und auf nachhaltigen Produkten. Er hat sich stark gemacht für produktbezogenen Klimaschutz (EcoTopTen), Produktpolitik (Produkt-Nachhaltigkeits-Analyse) und Labelling (Top 100 – Umweltzeichen für klimarelevante Produkte). Von 1992 bis 1994 war Rainer Grießhammer Mitglied der Enquete-Kommission „Schutz des Menschen und der Umwelt“ im Deutschen Bundestag. Von 2004 bis 2008 war er Mitglied im Wissenschaftlichen Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU). 2010 erhielt er den Deutschen Umweltpreis der Deutschen Bundesstiftung Umwelt. Er ist Autor zahlreicher wissenschaftlicher und populärwissenschaftlicher Schriften. 2012 wurde er zum Honorarprofessor für nachhaltige Produkte an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg ernannt.
* Bei der „Golden Carrot Initiative“ handelt es sich um eine erfolgreiche Kampagne von Energieunternehmen, dem US-Umweltministerium EPA und dem Rat zum Schutz natürlicher Ressourcen (Natural Resources Defense Council) aus den frühen 1990er Jahren. Unter dem Namen „Super Efficient Refrigerator Program“ (SERP) initiierten die Partner ein Bündnis zur Förderung der Entwicklung energieeffizienter Kühlschränke und veranstalteten einen mit 30 Mio. US-Dollar dotierten Wettbewerb um den energieeffizientesten Kühlschrank (siehe http://www.cee1.org/content/golden-carrots-beginning und http://www.nrel.gov/docs/legosti/old/7281.pdf). Das zuletzt ausgeschriebe Wettbewerbsprodukt war eine LED-Lampe. Wettbewerbskriterien und Anforderungen an das gewinnende Unternehmen sind hohe Produktqualität, Umweltperformance, ein günstiger und maximaler Verkaufspreis und eine vorgegebene Mindestabsatzmenge.